Wenn Yoga der Zustand ist, indem wir uns selbst erkennen und unseren Wesenskern ganz klar sehen können, gibt es im Alltag doch viele Situationen, in denen uns diese klare Sicht verwehrt ist. Darum geht es in den folgenden Versen (1.4 ff.) des ersten Yoga-Sutra-Kapitels. R. Sriram beschreibt das so: „In anderen Situationen beeinflussen die Bewegungen des Citta (des meinenden Selbst) die Erscheinungsform des Drasta (des sehenden Selbst.“
Denn natürlich beeinflussen die Bewegungen des Geistes, wie wir etwas sehen oder wahrnehmen, wie uns auch T.K.V. Desikachar in seiner Übertragung erläutert. „Normalerweise wird die Fähigkeit, etwas wirklich zu verstehen, einfach ersetzt durch Konzepte, die sich unser Geist von einem Objekt macht oder durch das Fehlen jeglichen Verständnisses.“ Da passt auch B.K.S Iyengars Übersetzung gut: „Zu anderen Zeiten identifiziert der Seher sich mit dem veränderlichen Bewusstsein.“ Yoga hilft uns dabei, uns dieses „veränderliche Bewusstsein“ klar zu machen und zu unterscheiden. Ronald Steiners moderner Transfer des Verses 1.4 lautet so: „Die vorbestehenden Gedanken und Gefühle (vrtti) in Deinem inneren Wahrnehmungsraum formen, wie Du Deine Umwelt und schließlich auch Dich selbst wahrnimmst.“ Es gibt also zwei Aspekte: die Wahrnehmung der Umwelt und die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Beide werden von diesen Bewegungen des Bewusstseins beeinflusst.
Vers 1.5
„Die Bewegungen des Citta (des meinenden Selbst) sind in fünf Arten unterteilbar – sie können alle beschwerlich oder nicht beschwerlich sein.“ So beschreibt es S. Sriram. Etwas anders formuliert es T.K.V. Desikachar: „Wir können in unserem Geist fünf Aktivitäten unterscheiden. Jede von ihnen kann uns Probleme bereiten oder aber dazu beitragen, dass wir glücklicher werden.“ B.K.S Iyengar wählt noch ein anderes Adjektiv, um die Arten zu beschreiben: „Die Bewegungen des Bewusstseins sind von fünferlei Art. Sie können schmerzhaft oder nicht schmerzhaft sein.“ Da sieht man ganz gut den Interpretationsspielraum, den die Sutra-Experten in ihren Übertragungen nutzen.
Ronald Steiner beschreibt es in seinem modernen Transfer nochmal anders: „Fünferlei Gedanken und Gefühle (vrtti) können Deinen inneren Wahrnehmungsraum ausfüllen. Manchmal sind sie für Dich leidvoll (klista), manchmal angenehm (aklista). Schaut man sich die Adjektive an, die hier genutzt werden, ergibt sich eine ziemlich große Bandbreite. Letztendlich muss sich wahrscheinlich jeder selbst darüber Gedanken machen, welche Übertragung er bevorzugt. Klar ist aber, dass es hier um eine Dualität geht: „beschwerlich/nicht beschwerlich“ oder „schmerzhaft/nicht schmerzhaft“.

Vers 1.6
Im Vers 1.6 werden schließlich diese fünferlei Arten aufgezählt, die die Bewegungen des Geistes haben können: „Richtige Wahrnehmung, Verblendung, Vorstellung, Tiefschlaf und Erinnerung“ (R. Sriram). T.K.V. Desikachars Übertragung unterscheidet sich davon nicht wesentlich: „Richtige Wahrnehmung, falsche Wahrnehmung, Vorstellung, tiefer traumloser Schlaf und Erinnerung.“ Er fügt dem tiefen Schlaf noch das Wörtchen „traumlos“ an, um den Zustand noch genauer zu beschreiben. B.K.S. Iyengar übersetzt den Vers so: „Die Bewegungen des Bewusstseins wurden verursacht durch zutreffendes Wissen, eingebildetes Wissen, Verblendung, Schlaf und Erinnerung.“ Ronald Steiner ergänzt in seinem modernen Transfer: „Nie kannst Du Dir sicher sein, welche dieser fünf Inhalte Deinen inneren Wahrnehmungsraum ausfüllen: Wahrheit (pramana), Interpretation (viparyaya), Fantasie (vikalpa), Dumpfheit (nidra) oder Erinnerung (smrti).
Vers 1.7
Aber wie können wir nun wissen, was es mit der richtigen Wahrnehmung auf sich hat? Da gibt der Vers 1.7 Auskunft: „Richtige Wahrnehmung entsteht auf drei Weisen – durch unmittelbare Erkenntnisse, durch Erkenntnisse, die wir über den Intellekt erlangen, und durch das Übernehmen von Erkenntnissen aus zuverlässigen Quellen“ (R. Sriram). In Zeiten von Fake News ist das hoch aktuell, denn gerade im Netz finden sich oft viele falsche oder auch schlecht recherchierte Informationen. Umso wichtiger ist es zu wissen, wo man verlässliche Informationen herbekommt. Die zuverlässigen Quellen beschreibt auch D.K.V. Desikachar: „Richtige Wahrnehmung beruht auf direkter Beobachtung, auf Schlussfolgerungen und der Bezugnahme auf zuverlässige Quellen.“
Eine etwas andere Richtung gibt B.K.S. Iyengar in seiner Übersetzung: „Zutreffendes Wissen weist sich auf dreierlei Art als solches aus: aufgrund von unmittelbarer Wahrnehmung, durch korrektes Schlussfolgern oder durch die Autorität der heiligen Schriften beziehungsweise derer, die Erfahrung besitzen.“ Er verweist also auf eine bestimmte Art von Quellen („heilige Schriften“), auf die wir uns beziehen können. Und R. Steiner beschreibt es so: „Direkte Sinneseindrücke (Pratyaksa), mentale Schlussfolgerungen (anumana) oder von anderen Gelerntes (agame) können eine Wahrheit (pramana) in Deinem inneren Wahrnehmungsraum projizieren. Wir können also selbst etwas als wahr erkennen, uns hilft aber auch das Wissen von erfahrenen Lehrern oder aus verlässlichen Quellen.
Vers 1.8
Und dann gibt es aber eben auch die falsche Wahrnehmung oder Verblendung: „Verblendung führt zu verkehrtem Wissen; der Gegenstand der Betrachtung wird anders verstanden, als er ist“ (R. Sriram). Den wahren Kern kann man dann nicht erkennen: „Falsche Wahrnehmung liegt dann vor, wenn das eigentliche Wesen des Wahrgenommenen nicht richtig erfasst wird“ schreibt T.K.V. Desikachar. Schwammiger und für mich damit weniger verständlich, formuliert es B.K.S Iyengar: “ Eingebildetes oder irriges Wissen beruht auf Nicht-Tatsachen oder Nicht-Wirklichem.“ Da gefällt mir Ronald Steiners moderner Transfer besser: „Falsch Gelerntes (mithya-jnanam) oder verzerrte Beobachtung (atad-rupa) können eine Interpretation in Deinem inneren Wahrnehmungsraum projizieren.“ Natürlich kann man sich dann fragen, wie man richtiges von falschem Wissen unterscheiden kann, aber auch da hilft uns der Weg des Yoga, der uns dazu bringt, dem wahren Kern der Dinge auf den Grund zu gehen.
Vers 1.9
In Vers 1.9 geht es um die Vorstellung als eine Art der Bewegung im Bewusstsein: „Bei Vorstellung ist der Gegenstand gar nicht vorhanden; es entsteht eine Wahrnehmung basierend auf Worten (Symbolen)“ (S. Sriram). Ähnlich übersetzt den Vers auch T.K.V. Desikachar: „Vorstellung basiert allein auf Worten, Bildern oder anderen Ausdrucksformen, während der Gegenstand selbst nicht vorhanden ist.“ Interessant ist, dass Desikachar hier nicht nur Worte nennt, sondern auch Bilder und andere Ausdrucksformen. „Einfaches Wortwissen ohne Substanz ist Einbildung oder bloße Vorstellung“ schreibt B.K.S. Iyengar in seiner Übertragung. Man könnte es auch so interpretieren: Es reicht nicht, etwa einen Text auswendig zu lernen, wir müssen auch die Substanz verstehen, die in ihm steckt. Ansonsten handelt es sich um Einbildung und nicht um richtiges Verständnis oder richtige Wahrnehmung. Zum Schluss noch Ronald Steiners moderner Transfer: „Stupide Gelerntes (sabda-jnana) oder Inhalte ohne reale Entsprechung (vastu-sunya) können eine Fantasie (vikalpa) in Deinem inneren Wahrnehmungsraum projizieren.“ Und das wiederum stört unsere Wahrnehmung unseres Selbst.